53

Hinter der Wohnungstür offenbarte sich ein riesiger Flur, wie Sofi ihn aus Barbros Wohnung am Strandvägen kannte. Anna-Lena schritt sofort alle Zimmer ab. Auf dem nicht unbeträchtlichen Rückweg lächelte sie erleichtert. Anscheinend war sie mit dem Zustand der Wohnung zufrieden.

„Das hat meine Mutter auch immer gemacht, wenn sie von einer Reise zurückkehrte“, stöhnte sie und verschwand lachend in die Küche.

Sofi hörte den Wasserhahn, schlüpfte aus ihren Schuhen und folgte hinterher. In Anna-Lena war seit dem Besuch im Krankenhaus heftiger Tatendrang erwacht. Wahrscheinlich hatte sie vor und während ihres Fluges nur starr dasitzen können und sich dabei Vorwürfe gemacht. Sie entzündete das Gas und stellte den Kessel auf den Herd.

„War das mal die Wohnung deiner Eltern?“

Anna-Lena nickte und nahm zwei Tassen aus dem Schrank. „Wir würden sicher nicht hier wohnen, wenn ich sie nicht geerbt hätte. Als meine Eltern starben, war ich mitten im Studium. Da habe ich hier einfach weitergewohnt.“

Sie stellte die Tassen ab und griff nach dem Beutel aus grünem Plastik, den ihr im Krankenhaus eine Schwester in die Hand gedrückt hatte. Sie nahm eine zerknitterte Hose heraus und faltete sie auf. Am linken Knie gab es schwarze Flecken und einen Riss.

„Oh je! Ihre Lieblingshose. Das wird sie treffen.“

Sie fuhr mit dem Zeigefinger über den Riss, um zu prüfen, ob er sich flicken ließ. Auf dem Weg zur Waschmaschine krempelte sie die Hose auf links und legte sie hinein. Sie goss Waschmittel ins Fach und startete die Maschine. Der Teekessel pfiff.

Schweigend nahm Sofi am Tisch Platz und beobachtete Lovisas Mutter. Sie selbst versuchte zum Beispiel immer, Schicksalsschläge durch Staubsaugen zu überwinden und Orientierungslosigkeit durch Schreibtischaufräumen.

Anna-Lena schenkte den Kaffee in die Tassen. Nach einem Schluck hievte sie ihren Koffer auf den freien Stuhl und begann, ihre Ausrüstung Stück für Stück auf dem Tisch zu arrangieren. Am anderen Ende der Küche gab die Waschmaschine blubbernde Geräusche von sich. Die Trommel begann sich zu drehen.

Anna-Lena erklärte Sofi die Namen der Objektive. Sie hatten nicht nur komplizierte Fachbezeichnung, sondern trugen auch einen Männervornamen, während die Kameras für Anna-Lena weibliche Geschöpfe waren.

„Das ist meine erste Kamera. Sie ist über fünfzig Jahre alt und heißt Nora. Leica M3. Ich habe sie bei meinem Großvater auf dem Speicher gefunden, als das Haus nach seinem Tod aufgelöst wurde. Die benutze ich immer noch.“

„So hast du mit dem Fotografieren angefangen?“

Sie nickte. „Ich war so alt wie Lovisa, gerade vierzehn. Mein Leben hat sich schon am nächsten Tag völlig verändert. Ich zog los und war bis zum Einbruch des Winters Tag und Nacht auf der Straße und knipste. Davor habe ich das übliche Leben eines Mädchens aus dem unteren Östermalm gelebt. Mit Nora fand ich endlich etwas, was mich aus dieser Müdigkeit herauszog.“

Sofi nickte, obwohl sie selbst noch nie Müdigkeit gespürt hatte, die das Leben als Ganzes betraf.

„Und wie lange hast du gebraucht, bis du so fotografieren konntest?“ Sofi deutete auf die Bilder an der Wand.

Anna-Lena betrachtete alle sechs Bilder eines nach dem anderen. Statt zu antworten, zog sie eine Schublade auf, die sich gleich vor ihr unter der Tischplatte verbarg.

„Magst du?“

Nach kurzem Zögern nahm Sofi eine Zigarette aus der Packung. Sofi sagte grundsätzlich zu jeder Versuchung ja. Das war ihre wichtigste Regel.

„Die Grenze zum richtigen Fotografieren erreicht man eigentlich schnell. Von da an ist es egal, wie gut man schon ist. Als Anfänger oder Tourist will man immer alles auf dem Bild haben. Meine ersten Bilder waren nur Panoramen und Straßenfluchten. Aber richtiges Fotografieren heißt, sich zu nähern und auf die Dinge zuzugehen. Das Motiv bekommt plötzlich eine Bedeutung. Und das spürst du sofort beim Entwickeln, wenn du diese Grenze überschritten hast. Die Bilder besitzen auf einmal Struktur, ein wahres Zentrum. Alles fügt sich. Hier!“

Anna-Lena schob Sofi die Kamera Nora hin. „Probier es. Dann erlebst du auch, was ein Messsucher ist.“

Sofi schaute durch den Sucher und suchte nach einer Inspiration.

„Versuch zu erkennen, was nicht in das Bild gehört. Nicht umgekehrt.“

Sofi blickte sich unschlüssig um. Anna-Lena räusperte sich. Sie schien zu spüren, dass Sofi überfordert war.

„Dreh dich um. Die Motive liegen immer hinter dir.“

Sofi vollführte eine Drehung auf dem Stuhl, entdeckte die laufende Waschmaschine und drückte auf den Auslöser. Im selben Augenblick blieb die Waschmaschine stehen. Das war Zufall, aber dennoch lachten sie beide nach einer Sekunde des Erstaunens los.

„Genau! Warten, antizipieren, abdrücken und verschwinden.“

Sofi legte die Kamera ab und zog ihr Notizbuch aus der Tasche. Sie begann zu schreiben.

„Was machst du?“

„Ich schreibe mir das auf.“

Anna-Lena starrte sie an. Am Ende grinste sie breit. „Ach so, du bist ja auch auf Motivsuche.“

„Ja“, sagte Sofi, ohne aufzublicken.

Du musst dich umdrehen. Die Motive liegen immer hinter dir.

Die Trommel der Waschmaschine begann sich wieder zu drehen. Sofis Notizbucheintrag zog sich in die Länge. Anna-Lena wurde neugierig.

„Ein Meisterwerk erkennt man immer daran, dass es ein besonders Detail im Bild gibt. The details makes the shot, sagen die Fotografen.“

Erst klimperte es, dann wurde ein Scheppern daraus. Während Sofi zu Ende schrieb, erhob sich Anna-Lena, ging zur Waschmaschine und kniete sich vor die Scheibe.

„Hoffentlich ist das nicht ihr Telefon“, sagte sie.

„Sie hatte keines bei sich“, rief Sofi und schraubte den Füller zu. Sie gesellte sich zu Anna-Lena. „Das wird ein Zehn-Kronen-Stück sein, so wie es scheppert.“

Anna-Lena drückte auf Stop und ließ die Maschine dann das Wasser abpumpen. „Haben die ihre Taschen denn nicht gelehrt?“

„Bestimmt haben sie die Sanitäter auf der Fahrt zum Krankenhaus entkleidet. Oder im Krankenhaus. Das stopfen sie dann in die Tüte.“

Nach drei Minuten klickte es, und Anna-Lena konnte die Tür öffnen. Sie zog die Hose heraus und tastete in der Trommel herum.

„Ein Schlüssel!“ Anna-Lena hielt ihn hoch und sah ihn verwundert an. „Also, das ist kein Wohnungsschlüssel“, sagte Anna-Lena. „Und auch nicht der vom Schulspint.“

Der Griff war mit gelbem Kunststoff überzogen. Stockholm – Centralbahnhof – Schließfach, fuhr es Sofi durch den Kopf.

03 - Der kopflose Engel
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